Die neue Falschschreibung

Reformen sind grundsätzlich begrüßenswert, wenn sie veränderten Umständen oder Bedürfnissen Rechnung tragen. Selbstverständlich kann man auch an der deutschen Sprache hin und wieder etwas ändern. Es gab und gibt dazu viele nicht ganz – und mitunter auch viel zu – ernst gemeinte Vorschläge.

Die Großbuchstaben könnte man ganz eliminieren, die Umlaute ersetzen (ä durch ae usw.), x ließe sich (wie im Dänischen) verlustfrei durch ks ersetzen, ph durch f, v – je nach Aussprache – durch f oder w. Das eigentümliche ß, das im Ausland immer wieder für Verwirrung sorgt, ließe sich problemlos durch ss ersetzen – die Schweizer und Liechtensteiner leben ja schon lange ß-frei. Überhaupt könnte man das Alphabet ökonomisieren – schließlich kommt die hawai‘ische Sprache mit fünf Vokalen und sieben Konsonanten (sowie dem ‘Okina) aus und kann trotzdem alles ausdrücken. Zudem gibt es im Hawai‘ischen weder Deklination noch Konjunktion und auch kein grammatisches Geschlecht. Die Hawai‘ianer leben, so könnte man meinen, auch sprachlich in einem Paradies.

Es gibt sogar (scherzhafte) Überlegungen zu einer noch umfassenderen „Vereinfachung“ der deutschen Sprache: durch Wegfall nicht nur von Großschreibung und Umlauten, sondern auch von Dehnungen und Schärfungen („dise masname eliminirt schon di groste felerursache“) sowie die Ersetzung weiterer Zeichen (v und ph durch f, j durch i, z und sch durch s, g und c und ch durch k, j und y durch i). Heraus käme dabei: „ales uberflusike ist ietst auskemertst, di ortokrafi wider slikt und einfak“. Natürlich hat eine solche Radikalkur niemand ernsthaft geplant – jedenfalls derzeit noch nicht.

Eines der meistgenannten Ziele ist die Übereinstimmung von gesprochenen Lauten (Phonemen) und ihrer schriftlichen Darstellung (Graphemen), die den oft notwendigen Übergang von gesprochener zu geschriebener Sprache – und umgekehrt – erleichtert. Linguisten sprechen hier von der Graphem-Phonem-Korrespondenz, abgekürzt GPK. Das ist ein hehres Ziel, das aus historischen Gründen in einigen Sprachen sehr weitreichend verwirklicht ist, in anderen so gut wie nicht vorhanden.

Im Dänischen kennen wir zum Beispiel, wie im Deutschen (dort freilich mit großem Anfangsbuchstaben), das Wort station. Im Dänischen wie im Deutschen sprechen wir es aber nicht „sta-ti-on“ aus, sondern eher wie „stasjon“ im Dänischen und „schtatsjon“ im Deutschen. Das mit dem Dänischen eng verwandte Norwegische (Bokmål) hat daraus die Konsequenz gezogen, die aus dem Lateinischen (statio) überlieferte Schreibweise zu einem der Aussprache näheren stasjon abzuändern. Das Dänische ist hingegen bei station geblieben, auch wenn die Aussprache der norwegischen stark ähnelt.

Auch im Englischen schreiben wir weiterhin station –sagen aber /ˈsteɪʃən/. Das ist typisch fürs Englische, das in der GPK-Rangliste ziemlich weit unten steht. Wer auch nur ein paar Jahre Englischunterricht in der Schule genossen hat, weiß, dass etwa die Buchstabenkombination ough in den Wörtern tough und though völlig unterschiedlich ausgesprochen wird und in keinem Fall ein g-Laut, geschweige denn ein h zu hören ist. Wer hingegen eine kurze Einweisung in die Aussprachegrundregeln des Italienischen oder Spanischen erhalten hat, kann sofort jeden Text in diesen Sprachen fehlerfrei lesen, ohne jemals zuvor Kontakt mit der Sprache gehabt zu haben. Das Deutsche liegt irgendwo zwischen diesen Extremen. Die Gründe sind historisch bedingt: Während sich Italienisch und Spanisch relativ „geradlinig“ aus dem Lateinischen entwickelt haben, waren am Entstehen der modernen deutschen und noch mehr der englischen Sprache viele Ursprungssprachen beteiligt, teils romanische und teils germanische.

Da es schwieriger ist, Menschen dazu zu bewegen, anders zu sprechen als anders zu schreiben, wird bei Sprachreformen meist nur die Schreibung reformiert. Doch hier betreten wir ein großes Minenfeld: Wo ist ein Eingriff sinnvoll? Was bewirkt er? Wie weit soll er gehen? Und welche neuen Probleme schafft er?

Schauen Sie sich doch einfach den vorhergehenden Absatz an. Was fällt Ihnen auf? Das Wort Mine (in Minenfeld) klingt phonetisch genau wie das Wort Miene, das eine völlig andere Bedeutung hat. Das e in Miene hat keinen Lautwert, sondern signalisiert nur die Dehnung des i-Lautes. Trotzdem wird Mine – ohne das Dehnungs-e – gleich ausgesprochen. Würde ich die Schreibung beider Wörter angleichen, wäre zwar die GPK gegeben, doch es bestünde eine gewisse Verwechslungsgefahr zwischen den Wörtern unterschiedlicher Bedeutung. Und welche Lawine (!) würde ich damit auslösen? Ich müsste doch die Änderung (das Einfügen bzw. das Streichen des e) konsequenterweise auf alle anderen Wörter mit -ine und -iene ausweiten: entweder „Bine“ und „Schine“, oder „Lawiene“ und „Gardiene“ – und eigentlich auch auf alle Wörter, die -in- oder -ien- enthalten: „Kieno“, und „Chiena“ oder „Schinbein“ und „Diner“. (für „Diener“) … aber Diner gibt es ja schon (französisch oder englisch ausgesprochen mit unterschiedlichen Bedeutungen: „festliches Abendessen“ bzw. „Restaurant in Speisewagenform“). Und wenn ich dann der Cousine ein Dehnungs-e spendiere, sollte ich dann nicht gleich „Kusiene“ schreiben? Das mag Ihnen vielleicht übertrieben erscheinen – aber genau diese irregeleitete Argumentation hat die letzte „Rechtschreibreform“ der deutschen Sprache aus dem Jahr 1996 versucht durchzupeitschen, tat es aber eher halbherzig und ist damit – erwartungsgemäß – auf der ganzen Linie gescheitert. (Ich spreche daher auch gerne von der „Falschschreibreform“ oder FSR.)

Dort, wo man die Graphem-Phonem-Korrespondenz anzuwenden versuchte, herrschte nämlich nicht die Konsequenz des Norwegischen, sondern bare Willkür, die sich jeder Logik verschließt – etwa wenn Fremdwörter, die aus dem Griechischen stammen, den Buchstaben phi (φ) wiedergeben, der zum Beispiel in φῶς („Licht“) enthalten ist. So erlaubt die Reform neben der traditionellen Transkription mit ph optional die Transkription mit f in Wörtern wie Fotografie („Lichtschreibung“) und dem daraus abgeleiteten Foto, aber nicht beim chemischen Element Phosphor („Lichtbringer“). Auch die „Filosofie“ darf es (noch) nicht geben.

Strenger ist man – auf den ersten Blick – bei der Transkription des Buchstabens theta (θ), der wie bisher mit th transkribiert werden soll, so dass sowohl Photosynthese als auch Fotosynthese erlaubt sind, aber keinesfalls „Fotosyntese“. Ebenso ist neben der Orthographie die Orthografie erlaubt, aber nicht die „Ortografie“. Gilt das grundsätzlich? Natürlich nicht! Denn erlaubt ist die h-lose Schreibung zum Beispiel bei Panter neben Panther (von πάνθηρ) und Tunfisch neben Thunfisch (von θύννος).

Auch die Transkription des griechischen rho (ρ) ist alles andere als konsequent: Während Eurythmie neben Eurhythmie erlaubt ist, darf die Arrhythmie zwar auch Arhythmie geschrieben werden, aber auf gar keinen Fall „Arrythmie“ (oder gar „Arytmie“) – obwohl beide Begriffe auf das griechische Wort υθμὀς zurückgehen. Das Fatale an der Reform ist vor allem ihre wahrhaft haarsträubende Inkonsequenz.

Eine andere Reihe von Beispielen: Wenn ich aus dem Adjektiv potent die Wörter potentiell, Potential oder Potentiometer ableite, indem ich -iell bzw. -ial anhänge, ändert sich die Aussprache nach einer Regel, die besagt, dass ein eingeschobenes -i- zwischen einem t und einem nachfolgenden Vokal dazu führt, dass die Buchstabengruppe ti nun /tsj/ ausgesprochen wird. Leiten wir hingegen das Wort Potenz ab (ohne nachfolgendes i plus Vokal) und wünschen uns die Aussprache /ts/, so müssen wir zwingend die Schreibung anpassen, und da wir im Deutschen den Laut /ts/ durch den Buchstaben z darstellen, wird daraus eben Potenz. Wir finden Ähnliches beispielsweise im Französischen mit Wörtern wie essentiel („essentiell“) und essence („Essenz“ oder auch „Benzin“) und im Englischen mit essential und essence. Die Erfinder der FSR haben hier nun eine Fehlerquelle für Menschen mit Rechtschreibschwäche ausgemacht und erlauben daher die alternativen Schreibweisen potenziell, Potenzial oder Potenziometer in rückwärtiger (!) Analogie zur Potenz.

Wäre man hier wenigstens konsequent gewesen, hätte man diese fakultative Schreibweise auf alle Buchstabengruppen mit ti plus Vokal ausgedehnt – hat man aber nicht. Konsequenz war, wie gesagt, nicht die Stärke dieser Reform. Als man einst Nationalsozialist zu Nazi verkürzte, wurde die Schreibung völlig korrekt geändert, damit die Aussprache /ts/ weiterhin stimmt. Die Schweizer hingegen verkürzten Nationalmannschaft zu Nati, lesen aber – entgegen der Ausspracheregel – /ˈnatsi/ (also genau wie Nazi). Logisch wäre es gewesen, analog zum Potenziometer, nun auch die Schreibung „Nazion“ für Nation oder „razional“ für rational zu erlauben, doch das gestattet die FSR nicht. Ausgerechnet besagte Nationalsozialisten hatten in Deutschland schon einmal eine ganz ähnliche Rechtschreibreform angedacht. Immerhin hatte diese die Umstellung von -ti- zu -zi- logisch zu Ende gedacht und sah neben der Schreibung Potenzial auch die Schreibung nazional vor. Das war „razional“, nachvollziehbar.

Anfangs glaubten auch die Befürworter der Sprachvergeschlechtlichung (denglisch „Gendern“ genannt), mit ein paar leichten kosmetischen Veränderungen ihre Ziele erreichen zu können: ein -in hie und da, ein paar holprige Partizipien dazwischen – voilà! Doch dann kamen die „Bauer_innen“, die grammatikalisch falsch sind, die „Kund:in“, die den Mann ausblendet, oder die „streikenden Arbeitenden“, die die Logik ausblenden. Sie erinnern sich noch daran, dass wir oben scherzhaft eine vermeintlich vereinfachende Reform unserer Schriftsprache darstellten, die dann in letzter Konsequenz zu kaum noch lesbaren Wörtern wie „ortokrafi“ führte. Nun sind wir nicht mehr weit von diesem Punkt entfernt oder haben ihn (durch Einführung neuer Zusatz- und Sonderzeichen) sogar schon überschritten – aber nicht, weil bestimmte Kräfte im Rahmen einer spektakulär gescheiterten „Rechtschreibreform“ die Orthographie vereinfachen wollten, sondern weil sie die Sprache selbst unnötig verkomplizieren.

Mehr zu diesem Thema finden Sie in meinem Buch Gewagt gesagt: Muss man das sagen oder darf man das noch?

Image by ha11ok from Pixabay

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