Nicht weit von meiner Heimatstadt entfernt liegt ein kleiner Ort mit weniger als 5.000 Einwohnern im Tal der Lahn, eines Nebenflusses des Rheins. Der Ort heißt Nassau, und über ihm thront eine in Teilen restaurierte Burgruine gleichen Namens. Das alles ist recht unspektakulär und ich hätte dem auch wohl keine größere Aufmerksamkeit geschenkt, wenn mir der Name Nassau nicht an so vielen unterschiedlichen Orten der Welt abermals begegnet wäre – von Amerika bis in die Südsee. Was hatte der kleine Ort im Rheinland mit der großen Welt zu tun – und hingen all die Nassaus überhaupt zusammen, oder handelte es sich etwa um bloßen Zufall? Um es vorwegzunehmen: Alles hängt zusammen. Wie? Um das zu verstehen, müssen wir gut tausend Jahre in die Vergangenheit reisen.
Soweit wir es heute feststellen können, wurde ein Gutshof namens „Villa Nassova“ im Jahre 915 zum ersten Mal in Kirchendokumenten erwähnt. Knapp zweihundert Jahre später erbauten dann die Grafen von Laurenburg jene Burg Nassau, deren Ruine noch steht, und erkoren sie zur Stammburg eines neuen Grafengeschlechts, der Nassauer. Heinrich I. war der erste, der sich 1160 „Graf von Nassau“ nannte.
Ab dem 13. Jahrhundert teilte sich das Haus Nassau in mehrere Linien auf. Ein Teil der Nassauer erwarb im Laufe der Zeit große Teile der Niederlande. Renatus (1519–1544) von Châlon erbte über seine Mutter Claudia, die mit Heinrich III. von Nassau-Breda (1483–1538) verheiratet war, das französische Fürstentum Orange in der Rhôneebene und nannte sich fortan Fürst von Oranien (niederländisch prins van Oranje). Weil er kinderlos war, gab er den Titel an seinen Vetter Wilhelm von Nassau-Dillenburg (1533–1584) weiter.
Im Jahre 1559 wurde dieser Wilhelm vom spanischen König zum Statthalter von Holland, Zeeland und Utrecht ernannt. Als sieben Provinzen als Republik der Vereinigten Niederlande 1581 ihre Unabhängigkeit von Spanien erklärten, trat Wilhelm, genannt der Schweiger (Willem de Zwijger), an die Spitze der niederländischen Unabhängigkeitsbewegung und führte sie im Achtzigjährigen Krieg (1568–1648) an. Obwohl er – wie es in der Nationalhymne der Niederlande auch heute noch heißt – „deutsches Blut“ hatte und von Haus aus Französisch sprach, gilt er in den Niederlanden als Vader des vaderlands („Vater des Vaterlands“).
Dieser Begriff kann durchaus wörtlich genommen werden, denn aus vier Ehen und einer außerehelichen Verbindung gingen mindestens 17 Kinder hervor. Einige von ihnen starben bereits im Kindesalter, und die nachfolgenden Kinder gleichen Geschlechts wurden auf denselben Namen getauft. So war auch sein Sohn Moritz (1567–1625) aus der zweiten Ehe, der nach der Ermordung seines Vaters Statthalter von Holland und Zeeland und später auch von Utrecht, Geldern und Overijssel wurde, bereits der zweite Moritz. Er war zudem Kapitän-General der Land- und Seestreitkräfte der Vereinigten Niederlande.
Als Admiral Wybrand van Warwijck 1598 eine zuvor portugiesische Insel im Indischen Ozean für Holland in Besitz nahm, benannte er sie nach Prinz Moritz (niederländisch Maurits) von Oranien, Graf von Nassau-Dillenburg, in der latinisierten Namensform Mauritius.
Acht Tage nach dem frühen Tod Wilhelms II. wurde sein Sohn geboren, Wilhelm III. (1650–1702). Dessen Mutter war Maria Henrietta Stuart, älteste Tochter des englischen Königs Karl I. (1600–1649). Wilhelm III. von Oranien wurde von 1689 bis 1702 in Personalunion auch König von England, Schottland und Irland. Währenddessen, am anderen Ende der Welt: Auf den Bahamas war die von britischen Siedlern 1656 erbaute Siedlung Charlestown – benannt nach Karl II. von England – 1684 durch eine spanisch-französische Flotte bei der Bekämpfung von Piraten zerstört worden. Nach ihrem Wiederaufbau taufte man sie 1689 zu Ehren des neuen englischen Königs auf den Namen Nassau – und so kam Nassau auch nach Amerika.
Nicht weit von den Bahamas entfernt, auf dem amerikanischen Festland, benannte man 1824 ein county (Landkreis, eigentlich „Grafschaft“ – vgl. count) nach dem deutschen Herzogtum Nassau.
Etwas weiter nördlich, im heutigen New York, hatten die Niederländer schon früh eine Kolonie unterhalten, die dann aber an die Briten fiel. Eine Insel, die sich Niederländer und Briten eine Zeitlang geteilt hatten, nannten die Niederländer zunächst ’t Lange Eylandt, die Briten aber – nach ihrem König, der ironischerweise aus den Niederlanden stammte – Nassau Island. Es ist unklar, wann die Briten diesen Namen fallenließen und auf Long Island, den heutigen Namen, umschwenkten. Immerhin überlebte der Name Nassau aber im Namen eines weiteren Nassau County, als dieser Landkreis 1899 auf Long Island gegründet wurde. Er verwendet in seiner Flagge die Farben Orange und Blau des Hauses Oranien-Nassau.
Noch ein Stück weiter nördlich, in Massachusetts, taufte man bereits Anfang des 19. Jahrhunderts ein Walfangschiff auf den Namen Nassau. Dieses Schiff trug den Namen noch einmal um die halbe Welt, nämlich in den Südpazifik, als sein Kapitän 1835 eine Insel sichtete, die heute zu den Cookinseln gehört, und sie nach seinem Schiff benannte. Überraschenderweise war diese Insel zum damaligen Zeitpunkt keineswegs namenlos, sondern war bereits von früheren französischen und amerikanischen Kapitänen mehrfach nach ihren jeweiligen Schiffen benannt worden – aber der Name Nassau erhielt quasi den Amtsstempel, als die Insel 1892 von Großbritannien annektiert wurde.
Daheim in Europa stellt das Haus Oranien-Nassau bis heute die Könige der Niederlande. Im Jahr 1890 erbten die Nassauer zudem den Thron des Großherzogtums Luxemburg, der zuvor in Personalunion mit dem niederländischen verbunden gewesen war. Die Mitglieder des luxemburgischen Hauses und die Mitglieder des niederländischen Königshauses führen bis heute den nassauischen Prinzentitel im Namen: König der Niederlande ist seit 2013 Wilhelm-Alexandern (Willem-Alexander), Prinz von Oranien-Nassau, und Großherzog von Luxemburg ist Heinrich (Henri), Herzog von Nassau.
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Burg Nassau: Image by Wolfram Strachwitz from Pixabay
Nassau, Bahamas: Image by skeeze from Pixabay