Plurales Denken

Wenn wir uns Wörter aus fremden Sprachen leihen, nehmen wir zwangsläufig auch ein Stück Grammatik mit an Bord. Am häufigsten begegnet uns dieses Phänomen in der Bildung des Plurals, also der Mehrzahl. Viele unserer modernen Fremdwörter stammen aus dem Englischen und Französischen, und zum Glück haben diese Sprachen vergleichsweise einfache Regeln zur Pluralbildung – einfacher als die der deutschen Sprache sind sie allemal.

Eine Sprache wie das Spanische, in der die meisten Substantive (Hauptwörter) auf einen Vokal (Selbstlaut) enden, hat keine Probleme damit, sehr konsequent ein ‑s anzuhängen, um den Plural zu bilden – in einigen Fällen wird noch ein Füll‑e eingeschoben, aber das war’s schon. Das Französische und Englische kommen ebenfalls in den meisten Fällen mit dem Anhängen von ‑(e)s über die Runden. Dort, wo es Ausnahmen gibt (z.B. niveau/niveaux oder baby/babies), lässt die deutsche Grammatik ausdrücklich zu, ja schreibt sogar vor, dass wir diese Ausnahmen ignorieren und die Substantive so behandeln, als bildeten sie ihre Mehrzahl nach der allgemeinen Regel (Niveau/Niveaus und Baby/Babys).

Nun enthält unsere Sprache aber auch zahlreiche Fremdwörter aus dem Griechischen und Lateinischen, und hier sind die Regeln der Pluralbildung wesentlich komplizierter – vor allem deshalb, weil Substantive unterschiedlichen Deklinationsmustern folgen. Ohne jetzt in die Details zu gehen, seien hier nur ein paar Beispiele, die erkennen lassen, wie kompliziert es sein kann: Für dominus („Herr“) lautet der Plural domini, für portus („Hafen“) lautet er portūs (mit langem u), für corpus („Körper“) hingegen corpora. Nun macht es uns die deutsche Sprache auch nicht leicht. Wir haben das Wort corpus in drei verschiedenen Bedeutungen eingedeutscht und in unsere Sprache übernommen: der Korpus für eine Christusfigur am Kreuz oder den massiven Teil eines Möbelstücks, die Korpus für einen alten Schriftgrad und das Korpus für den Klangkörper eines Instruments oder den Text, der einer wissenschaftlichen Untersuchung zugrunde liegt. Nun lautet – dem Duden zufolge – der Plural im ersten Fall Korpusse, im letzten Fall Korpora, während es für den Schriftgrad keine Mehrzahlform gibt. Man ahnt schon: Es gibt hier keine feste Regel – selbst wenn man die lateinischen Plurale kennt.

Zum Glück lässt uns die deutsche Sprache einige Freiheiten und verlangt uns nicht das Große Latinum ab, wenn wir mal ein Lehnwort verwenden, das ohnehin schon lange eingedeutscht ist. So sind neben den Indizes auch die Indexe als Mehrzahl von Index gestattet, und für den Plural von Matrix erlaubt uns der Duden nicht nur die Matrizen neben den Matrizes, sondern auch noch die Schreibweise Matrices.

Fremd- oder Lehnwörtern aus dem Griechischen ergeht es ähnlich, zumal man hier in der breiten Bevölkerung noch weniger Grundkenntnisse der ursprünglichen Grammatik voraussetzen kann als im Falle des Lateins (siehe auch Kapitel „Das kommt mir griechisch vor“). Hier hat man oft die Auswahl, ob man Beistriche Kommata oder Kommas nennt, Themen oder Themata sagt, Traumen oder Traumata, Stigmen oder Stigmata. Allerdings ist man auch hier nicht völlig frei: weder Kommen noch Themas, Traumas oder Stigmas wären korrekt. Für Schema sind jedoch tatsächlich drei Formen zulässig: Schemata, Schemen und Schemas.

Nun gibt es aber auch noch eine lebende Sprache, die reichlich Verwirrung stiftet. Das Italienische, das, wie alle romanischen Sprachen, aus dem Lateinischen hervorgegangen ist, bildet seine Plurale – im Unterschied zum Spanischen beispielsweise – durch eine Veränderung des abschließenden Vokals. Zum Glück ist die Pluralbildung etwas einfacher als im Lateinischen. Zum einen kennt das italienische nur zwei grammatische Geschlechter (Genera, Plural von Genus), nämlich männlich (maskulin) und weiblich (feminin), und oft (nicht immer) ist das Geschlecht an der Endung ‑o oder ‑a bereits erkennbar. In sehr vielen Fällen (wiederum nicht in allen), bildet man den Plural, indem aus ‑o oder ‑e ein ‑i wird (treno/treni „Zug/Züge“, mano/mani „Hand/Hände“, notte/notti „Nacht/Nächte“) und aus ‑a ein ‑e (donna/donne „Frau/Frauen“). Das ist, wie gesagt, nur eine Grundregel, aber sie hilft weiter. Man ahnt also, dass bambini bereits der Plural von bambino („Kind“) ist und ein Wort wie „Bambinis“, das man gelegentlich in Deutschland liest, unsinnig.

Es gibt Wörter wie Graffiti, die im Alltag viel häufiger in ihrer Pluralform als in der Singularform auftauchen, aber trotzdem existiert die Einzahl das Graffito auch im Deutschen, und Graffiti ist folglich als Plural zu behandeln. Es muss also heißen: „Die Graffiti wurden entfernt“ (und nicht „wurde“). Auch Nudelsorten wie Spaghetti, Tortellini oder Farfalle werden meist im Plural bezeichnet und müssen auch so behandelt werden. Ähnliches gilt für Scampi und Gnocchi. In diesen Fällen gibt der Duden die Singularformen (Spaghetto, Tortellino, Farfalla, Scampo, Gnocco) gar nicht an, so dass immer wieder Unklarheit herrscht, und so wird für eine einzelne Nudel aus der maskulinen Pluralform Spaghetti eine (falsche) feminine Singularform „die/eine Spaghetti“ gebildet. (Online bezeichnet der Duden der Spaghetto als „fachsprachlich“.)

Im Englischen werden Pluralwörter gelegentlich im Singular gebraucht, vor allem dann, wenn sie aus anderen Sprachen stammen und nicht als Plural erkannt werden. Während Medium (lateinisch „Mitte“) im Deutschen einen deutschen Plural bildet (Medien), verwendet man im Englischen den lateinischen Plural media, gebraucht ihn aber meist als Singular: „Die Medien berichten …“ heißt meist “The media is reporting …”. Ähnlich verhält es sich mit data (deutsch Daten), dem Plural von datum (lat. „das Gegebene“) (nicht zu verwechseln mit engl. date = „Datum“ im Sinne von „Kalendertag“). Visa hat sich im Englischen vollkommen verselbständigt und ist vom Plural zum Singular mutiert. Während wir im Deutschen den korrekten lateinischen Plural Visa für mehr als ein Visum verwenden, heißt „ein Visum“ im Englischen one visa und „zwei Visa“ heißen two visas.

Das gleiche Schicksal – dass ein Plural zum Singular wird – traf auch ein englisches Wort, das wir heute im Deutschen gebrauchen, aber kaum noch als Fremdwort erkennen: Keks. Das englische Wort cake („Kuchen“) hielt tatsächlich vor über hundert Jahren in der phonetischen Umschreibung Kek Einzug in die deutsche Sprache und 1915 auch in den Duden, der ausdrücklich darauf hinwies: „Diese Eindeutschung des engl. cake ist annehmbar, aber es muß in der Ez. [Einzahl] Kek gesagt werden, nicht Keks.“ (Ulrich Busse: Anglizismen im Duden. Eine Untersuchung zur Darstellung englischen Wortguts in den Ausgaben des Rechtschreibdudens von 1880–1986. Berlin: de Gruyter, 1993, S. 37). In der nächsten Auflage wurde allerdings bereits zugestanden, dass das Wort nur in der Pluralform Keks verwendet wurde, und am Ende wurde aus die Keks (Plural) der Keks (Singular) mit einem eigenen neuen Plural: die Kekse.

Aus sprachlicher Sicht fürchterlich sind Rückbildungen eines falschen Singulars aus einem Plural. Dieses Phänomen betrifft nicht nur die Spaghetti, sondern auch lateinische Begriffe, deren Singular eigentlich bekannt und in der deutschen Sprache etabliert fest etabliert ist. Die Mehrzahl von das Bakterium lautet bekanntlich die Bakterien, aber dennoch wurde daraus die falsche Einzahl „die Bakterie“ rückkonstruiert. Erschreckenderweise lässt der Duden diese Form inzwischen nicht nur zu, sondern bezeichnet das Bakterium sogar als „veraltet“. (Entgegen dieser absurden Sprachlogik spricht das Wörterbuch aber weiterhin von das Kriterium und nicht von „die Kriterie“!) Es ist vielleicht an der Zeit, auch den Begriff „Deppensingular“ in die deutsche Sprache einzuführen …

Eine ausführliche Version dieses Beitrags gibt es in meinem Buch Dr. Kinnes Sprechstunde, das auch einen Link zu meinem Online-Quiz enthält.

 

Image by Myriam Zilles from Pixabay

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