Um die Weihnachtszeit findet man auch im deutschen Sprachraum nicht selten ein “Merry Christmas” oder gar die Kurzform “Merry Xmas”. Überhaupt lassen sich in den letzten Jahren verstärkt angloamerikanische Einflüsse bei den Feiertagen beobachten. In manchen Fällen hat der vermeintlich amerikanische Einfluss aber durch und durch europäische, ja sogar deutsche Wurzeln. Haben Sie schon einmal von der Grundsau gehört? Vermutlich nicht. Es wird also Zeit, der Sau mal auf den Grund zu gehen – aber schauen wir es uns mal der Reihe nach an und beginnen … am Jahresende.
Das Wort Christmas für „Weihnachten“ setzt sich aus Christ („Christus“) und mass („Messe“) zusammen, bezeichnet also eigentlich den Gottesdienst, den man heute meist Christmette nennt. (Auch hier fand eine Bedeutungsverschiebung statt, denn Christmette bezeichnete ursprünglich ein Stundengebet – aber das ist eine andere Geschichte.) Bezeichnungen mit -mas gab und gibt es im Englischen auch für andere Feiertage, etwa Michaelmas für den Michaelstag oder Michaeli (29. September) oder Martinmas für den Martinstag oder Martini (11. November). Zwei weitere Beispiele sind Hallowmas und Candlemas, auf die wir weiter unten noch einmal zurückkommen.
Nicht erst in der modernen Werbesprache, sondern bereits vor vielen hundert Jahren kam die Kurzschreibung Xmas (oder X‑mas) auf, in der der Buchstabe X das Wort Christ ersetzte. Das X steht hier aber nicht etwa für cross (wie in der ebenfalls – zum Beispiel auf amerikanischen Straßenschildern – verbreiteten Kurzform Xing für crossing) und ist auch nicht der 24. Buchstabe des lateinischen Alphabets, sondern Chi, der 22. Buchstabe des griechischen, also der Anfangsbuchstabe von Χριστός (Christós), „der Gesalbte“. Die christliche Kirche selbst hat schon früh mit solchen Abkürzungen gearbeitet – am bekanntesten dürfte das frühe Christogramm Chi Rho sein, die übereinaderliegenden Anfangsbuchstaben von ΧΡΙΣΤΟΣ (die von Unwissenden oft fälschlich als lateinische Buchstaben XP oder PX gelesen werden). Da das X nur eine Art Kurzschrift ist, spricht man Xmas nicht “eksmes” (oder gar „iksmas“) aus und auch nicht „chi-mes“ (oder “kai-mes” nach der englischen Aussprache von Chi), sondern “krismes”, genau wie die ausgeschriebene Form Christmas. Viele Stilhandbücher raten jedoch grundsätzlich vom Gebrauch ab. Ich persönlich meine, dass man sich gerade auf Grußkarten auch die Zeit nehmen sollte, das Wort auszuschreiben (wer „LG“ schreibt, sendet auch nicht wirklich „liebe Grüße“).
Der Tag vor Weihnachten, also Heiligabend, heißt im englischen Sprachraum Christmas Eve. Die Bezeichnung Eve kennt man auch von New Year’s Eve , dem Tag vor Neujahr, der hierzulande wegen des (völlig zufälligen) Namenstages des gleichnamigen Heiligen als Silvester bezeichnet wird. Die Bezeichnungen gehen auf die alte (im Judentum noch heute gebräuchliche) Tageseinteilung zurück, nach der ein Tag mit Sonnenuntergang beginnt und endet und nicht, wie ansonsten üblich, um Mitternacht. Der Grund war einfach: Bevor man (vor allem das einfache Volk) zuverlässige Uhren besaß, war es praktisch unmöglich, den genauen Zeitpunkt von Mitternacht zu bestimmen, und so orientierte man sich beim Tageswechsel am allseits sichtbaren Sonnenuntergang – auch wenn sich dadurch die Tageslängen abseits des Äquators im Laufe des Jahres von Tag zu Tag geringfügig änderten. Alternativ hätte man natürlich auch mit dem Sonnenaufgang beginnen können (der als Tagesbeginn „logischer“ erscheinen mag), und genau das taten die alten Wikinger. Auch diese Tageseinteilung hat bis in die heutige Zeit Spuren hinterlassen, denn sie ist der Grund dafür, dass man im Schwedischen das Abendessen bis heute middag nennt – der Abend war die Tagesmitte, also der „Mitt-Tag“.
Doch kehren wir nun noch einmal zu Hallowmas zurück, einer Kurzform von All Hallows’ Mass und alten Bezeichnung für All Saints’ Day, also Allerheiligen, den 1. November. Die drei Tage vom 31. Oktober bis zum 2. November fasst man auch zum Triduum unter dem Namen [All]hallowtide oder Allsaintstide zusammen. Der 2. November ist bekanntlich Allerseelen (All Souls’ Day), aber mit dem 31. Oktober ist die Sache etwas komplizierter. Während Protestanten an diesem Datum den Reformationstag begehen (im Gedenken an den 31. Oktober 1517, an dem Martin Luther seine 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg geschlagen haben soll), suchten wohl zuerst irische Katholiken nach einem Pendant und erklärten den Tag – logischerweise – zum „Vortag/‑abend von Allerheiligen“, also All Hallows’ Eve. Daraus wurde dann Hallows’ Even und schließlich – wie wir es heute kennen – Hallowe’en oder Halloween. Mit den irischen Auswanderern gelangte der Feiertag in die USA, wo ihm dann nach und nach jedweder religiöse Gehalt abhanden kam. Auch die heutigen Halloween-Bräuche haben wohl irische Ursprünge. Aus der Sage um den Bösewicht Jack Oldfield, der den Teufel erpresst hatte, entstand zunächst eine kerzenbeleuchtete Rübe, die man im englischen Sprachraum auch heute noch Jack O’Lantern („Jack-O[ldfield]-Laterne“) nennt. Beim Transfer in die USA wurden aus den Rüben dann aber rasch Kürbisse, die in der Neuen Welt eher verfügbar waren.
Und wie kam Halloween nach Deutschland? Ich persönlich war sehr überrascht, als ich in den 1980er Jahren in den USA wohnte und dort Luftschlangen mit Halloween-Motiven verkauft wurden, die in Deutschland hergestellt worden waren – obwohl ich zum damaligen Zeitpunkt noch nie Halloween-Dekorationen in Deutschland gesehen hatte und Halloween in meiner Kindheit nur vom Peanuts-Special It’s the Great Pumpkin, Charlie Brown (1966) aus dem Fernsehen kannte. Tatsächlich waren deutsche Firmen für Party- und vor allem Karnevalsbedarf aber wohl Spezialisten im Herstellen von Luftschlangen und hatten schon damals geeignete Exportmärkte entdeckt. Und genau solche Firmen steckten wohl auch hinter der Einführung dieses Gruselfests in Deutschland. Als nämlich hier 1991 viele Karnevalsvereine ihre Feiern und Umzüge wegen des Zweiten Golfkriegs absagten, suchten Industrie und Handel nach einer schnellen Lösung, um ihre Absatzeinbußen im Frühjahr noch vor Jahresende auszugleichen und stießen auf das – zumindest in Sachen Kostümierung und Süßigkeiten – ähnlich ausgerichtete amerikanische Halloween. Zusätzlich freuten sich die viele Kürbisbauern, die so ganz neue Käuferschichten erschließen konnten, und folglich fand Halloween auch gerade in traditionellen Kürbisanbaugebieten wie dem Spreewald besonders schnell Anklang.
Im Unterschied dazu gelang dem US-amerikanischen Erntedankfest – Thanksgiving – am vierten Donnerstag im November nur indirekt der Export nach Deutschland. Das Dankesfest für gute Ernten wird hierzulande nicht Ende November gefeiert, denn hier besaß man ja bereits ein traditionelles Erntedankfest, das meist am ersten Sonntag im Oktober, also viel früher, begangen (und wegen des Sonntags nicht als zusätzlicher Feiertag wahrgenommen) wird. Das hielt aber den deutschen (und überhaupt europäischen) Handel nicht davon ab, den amerikanischen „Brückentag“, also den Freitag nach Thanksgiving, an dem viele Amerikaner Urlaub nehmen und ihre Weihnachtseinkäufe tätigen, als Black Friday in der einen oder anderen Form zu übernehmen, auch wenn dieser Tag ohne die Brückenfunktion nach dem freien Donnerstag eigentlich ein Tag wie jeder andere ist. In den frühen Jahren des Online-Einkaufens (also Anfang des Jahrtausends), als nur wenige Haushalte ordentliche private Internet-Anschlüsse besaßen, kam zusätzlich der Brauch auf, am darauffolgenden Montag vom Arbeitsplatz aus Bestellungen aufzugeben. Der Online-Handel bemerkte diese Steigerung natürlich und taufte den Montag nach Thanksgiving Cyber Monday, um dann verstärkt weitere Angebote auf den Markt zu werfen. Als das schnelle Internet wenig später auch in die Privathaushalte Einzug hielt, war der Grund für diese Aktion rasch obsolet geworden, doch hat man den Tag bis heute beibehalten. Er vermischt sich allerdings zunehmend mit dem Black Friday zu einem ausgedehnten Einkaufswochenende, so dass ganze “Black Weeks” oder “Cyber Weeks” ausgerufen werden – die Phantasie des Handels kennt bekanntlich keine Grenzen.
Ein weiterer amerikanischer Feiertag, der Groundhog Day, geriet durch den gleichnamigen Film von 1993 (mit dem recht albernen deutschen Titel Und täglich grüßt das Murmeltier) in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Eigentlich musste man im Deutschen keinen „Murmeltiertag“ erfinden, denn dieser Feiertag ist als „Grundsautag“ überraschenderweise ganz und gar deutschen Ursprungs. Es waren nämlich die Pennsylvaniadeutschen, die das amerikanischer Waldmurmeltier (Marmota monax) – ein Verwandter unseres Alpenmurmeltiers (Marmota marmota) – als Grundsau oder Grunddax bezeichneten (die Angloamerikaner nennen es woodchuck). Diese deutschen Auswanderer glaubten auch daran, dass die Nager das Wetter vorhersagen könnten, genauer gesagt: Wenn die Grundsau Anfang Februar aus ihrem Bau kriecht und ihren Schatten sieht (weil das Wetter klar ist und die Sonne scheint), dann bleibt es weitere sechs Wochen kalt. Diesen Aberglauben (der übrigens keiner empirischen Prüfung standhält!) hatten sie aus der alten Heimat mitgebracht, wo man ihn nicht auf Murmeltiere, sondern auf die landesweit verbreiteteren Dachse angewandt hatte (und trotz der Bezeichnung Grunddax ist das Waldmurmeltier nicht mit dem Dachs verwandt). Dieser Mythos verschmolz wohl mit diversen Bauernregeln, die Bezug auf den kirchlichen Feiertag „Darstellung des Herrn“ nahmen. Im Volksmund wird der Feiertag meist Mariä Lichtmess genannt, im Englischen Candlemas (wörtlich „Kerzenmesse“) – und hier schließt sich der Kreis mit den Feiertagen auf ‑mas. Dazu sind in diversen Quellen aus dem 19. Jahrhundert „Regeln“ verbürgt wie: „Wenn der Dachs zu Maria [sic] Lichtmeßen, mittags zwischen 11 und 12 Uhr seinen Schatten sieht, so muß er noch vier Wochen in seinem Baue bleiben“ (Adalbert Kuhn, Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen, 2. Teil: Gebräuche und Märchen, Leipzig: Brockhaus, 1859, S. 118). Aus dem simplen Grundsaudaag der Pennsylvaniadeutschen wurde dann – in typisch amerikanischer Art – das heutige Medienspektakel mit Live-Übertragungen von unterschiedlichen Murmeltierbauten – allen voran aus dem pennsylvanischen Städtchen Punxsutawney (dessen Name in der Indianersprache Unami angeblich „Land der Mücken“ bedeuten soll) mit seinem Murmeltier Phil. Für Harold Ramis war dies nur der Aufhänger für einen Film, dessen Handlung selbst wenig mit dem Tier oder seiner angeblichen hellseherischen Fähigkeit zu tun hat – und schon gar nichts mit seiner deutschen Herkunft.
Eine ausführliche Version dieses Beitrags gibt es in meinem Buch Dr. Kinnes Sprechstunde, das auch einen Link zu meinem Online-Quiz enthält.
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