Wissen Sie, was das Wort natürlich bedeutet? Natürlich wissen Sie das! Aber benutzen Sie das Wort auch immer in diesem Sinn? Natürlich nicht! Denn schon in diesem Satz bedeutet natürlich nicht „von Natur aus“, sondern „selbstverständlich“. Mit „Natur“ hat es wenig zu tun, wenn Sie die Bedeutung des Wortes natürlich verstehen, denn die Sprache ist ein künstliches Konstrukt.
Oft denken wir gar nicht darüber nach, was ein Wort eigentlich bedeutet. Ich meine damit nicht, dass digital eigentlich „mit dem Finger“ oder „auf den Finger bezogen“ bedeutet – hier hat ein Wort eindeutig eine zusätzliche Bedeutung erlangt, die wesentlich weiter verbreitet ist als die „wörtliche“ (die fachsprachlich in Medizin und Anatomie durchaus noch fortbesteht). Ich spreche von alltäglichen Wörtern wie dem eingangs erwähnten natürlich, deren Grundbedeutung („aus der Natur“, „auf die Natur bezogen“) jedermann bewusst sein dürfte, aber immer wieder verdrängt wird. Das Fatale („Schicksalhafte“) daran ist, dass Werbung und andere Arten von Propaganda („Verbreitung [des Glaubens]“) diese Schwäche radikal („wurzeltief“) ausnutzen.
Nehmen wir einmal die Begriffe Chemie oder chemisch. Außer mit einem mehr oder weniger beliebten Schulfach assoziieren viele Menschen – besonders hierzulande – mit dem Begriff Chemie („Stoffkunde“) eine eher unbeliebte Industrie, die Dinge herstellt, die unsere Umwelt belasten oder ungesund für unseren Körper sind. Diese Industrie würde sicherlich – und völlig zu Recht – darauf verweisen, dass sie auch vieles produziert, das unseren Alltag erleichtert, unsere Lebensqualität verbessert, unsere Gesundheit fördert und in vielen Bereichen sogar unverzichtbar geworden ist. Aber selbst damit fassen wir den Begriff immer noch zu eng, denn Chemie kommt nicht nur aus Fabriken und wird nicht nur von Menschen und in Labors hergestellt – Chemie ist überall: das Blut in unseren Adern, die Luft, die wir atmen, der Planet, auf dem wir wohnen: das alles lässt sich, chemisch gesehen, auf wenige Grundbausteine reduzieren. Unsere gesamte Natur besteht aus Chemie!
Es ist folglich widersinnig, hier einen Gegensatz zu sehen: Chemie einerseits – Natur andererseits. Und noch unsinniger wäre es, das eine zu verteufeln und das andere zu verklären. Aber genau das tun viele Menschen – und natürlich (!) auch die bereits erwähnte Werbung, die „natürliche“ Inhaltsstoffe als das Alleinseligmachende verkauft, ob in Lebensmitteln, Waschmittel oder Kosmetik. In der Grundbedeutung bezeichnet Natur das (ohne menschliches Zutun) „Gewachsene, Geborene“. Ich erinnere mich an einen Aufenthalt in Australien, in der mich Schilder am Strand vor gefährlichen Quallen, am Waldrand vor giftigen Pflanzen, in Parks vor angriffslustigen Schlangen und am Flussufer vor bissigen Krokodilen warnten – und ich mich eigentlich in einem sehr unnatürlichen Haus oder Auto viel sicherer fühlte als in der Natur. Wie würden wir reagieren, wenn der „Bio-Laden“ („Leben-Laden“ – über diesen Begriff habe ich mich hier schon an anderer Stelle ausgelassen) eine Packung Giftpilze mit dem Aufdruck „100%iges Naturprodukt, frei von Zusatzstoffen und Pestiziden“ verkaufen würde? Es wäre gewiss keine Werbelüge – aber es wäre für uns Verbraucher lebenswichtig, in diesem Moment zu erkennen, dass es „die Natur“ nicht immer gut mit uns meint.
Ebenso grundlegend wie die Chemie ist das Atom. Die chemischen Elemente, aus denen alles – wirklich alles – besteht, sind, wie wir wissen, aus Atomen aufgebaut, den Grundbausteinen der Materie. In den vierziger und fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stand der Begriff Atom für Fortschritt und alle (positiven) Verheißungen der Zukunft, und man glaubte zeitweise, irgendwann einmal alles mit der Kraft des Atoms antreiben zu können, denn – das sollten wir nicht vergessen, wenn wir schmunzelnd bis befremdet auf diese Zeit zurückblicken – eine Zeitlang schien die durch Kernspaltung gewonnene Energie eine kostengünstige und vor allem sehr saubere und umweltschonende Alternative zu den bisher bekannten (sehr schmutzigen und viel gefährlicheren und ungesünderen) Formen der Energiegewinnung zu sein. Als nach und nach die Probleme dieser neuen Form der Energiegewinnung – vor allem das der Endlagerung verbrauchter Brennelemente – immer offensichtlicher wurden, schwand auch die Begeisterung und schlug teilweise ins Gegenteil um. Für einige Menschen wurde Atom geradezu zu einem Schimpfwort – was dem Atom gegenüber allerdings sehr unfair ist, denn warum sollten wir den Baustein unserer Materie plötzlich verteufeln, nur weil eine bestimmte Form der Energiegewinnung – die durch Kernspaltung – problematisch ist? Allein der Begriff Kernenergie (oder Atomenergie) vernachlässigt schon die Differenzierung zwischen den zwei Formen der Energiegewinnung aus dem Atom: der Kernspaltung (Fission) und der Kernfusion. Die Kraftwerke, die derzeit auf der Erde Strom für uns erzeugen, arbeiten allesamt das dem Fissionsprinzip, aber es ist die Kernfusion, die wieder einmal Grundlage unseres gesamten Lebens ist, denn sie findet in der Sonne statt – ohne diese Form der Atomenergie gäbe es also kein Leben, und selbst wenn wir es könnten, täten wir gut daran, sie nicht abzuschaffen. Wer also gegen die Energieversorgung durch Kernkraftwerke ist, diese aber durch Photovoltaikanlagen und Windräder ersetzen möchte, ersetzt nur eine Form der Kernenergie durch eine andere (Wind entsteht durch Luftbewegungen, die durch zustande kommen, dass Teile der Atmosphäre mehr und andere weniger durch das Kernkraftwerk Sonne erhitzt werden). Selbst Energie aus Kohle (z.B. die „jahrtausendealten Bäume“ im Hambacher Forst) oder Erdöl ist – gespeicherte – Sonnenenergie, also letztendlich nur durch die Kernfusion in der Sonne entstanden.
Und wenn wir schon von unseren Grundbausteinen sprechen: Ebenso elementar wie Atom und Chemie sind unsere Gene. Sie bestimmen, was wir sind und wer wir sind. Und dennoch wird auch der Begriff Gen ständig missbraucht (erkennen Sie das System?). Ein Begriff wie „Gen-Mais“ ist ebenso unsinnig wie „Bio-Mais“, denn jeder Mais enthält Gene und stammt von einem lebenden (biologischen) Organismus. Trotzdem treten vielen Menschen allein bei der Vorsilbe Bio Tränen der Rührung in die Augen, während ihnen bei dem Wortbestandteil Gen Schauer des Entsetzens über den Rücken laufen. Dabei ist das Gen ebensowenig böse wie das Atom. Vielmehr rührt die Gen-Antipathie von der Gentechnik, die zahlreiche Menschen grundsätzlich ablehnen – oft genug ohne genauere Kenntnisse der Materie. Wenn man in einem Labor in die Genetik von Organismen jedweder Art eingreift und Gene modifiziert, sprechen Gegner jedweder Art von Gentechnik sofort von Genmanipulation – wohlwissend, dass das Wort manipulieren („handhaben“) im Deutschen längst einen negativen Beigeschmack bekommen hat. Sie vergessen dabei, dass man weder Labore noch moderne Gentechnik benötigt, um Gene zu manipulieren: Wir schaffen das seit Jahrhunderten durch Züchtungen und Kreuzungen. Dackel und Pudel sind ebenso genmanipulierte Wölfe wie Orangen genmanipulierte Pampelmusen und Mandarinen sind. Aber es bedarf nicht einmal eines menschlichen Eingriffs – die genetische Veränderung ist, wie wir seit Darwin wissen, das A und O der Evolution, und deshalb ist auch der Wellensittich am Ende nichts anderes als ein genmanipulierter Dinosaurier!
Wir täten also gut daran, öfter einmal über die Bedeutung von Wörtern nachzudenken, bevor sie über unsere Lippen kommen. Aber es ist wohl auch ganz natürlich – das heißt: „es liegt in unserer Natur“ –, dass wir es nicht tun.
Eine ausführliche Version dieses Beitrags gibt es in meinem Buch Dr. Kinnes Sprechstunde, das auch einen Link zu meinem Online-Quiz enthält.